Springwater-Meditation
Was ist das Ich?

Was ist das Ich?

Hinweis

Dieser Text stammt aus dem Talk, den Toni in einem Retreat in Springwater gab. (Springwater Center 1997, Tag 4 des August-Retreats.) Er wurde im Newsletter des Springwater Centers veröffentlicht und ist hier in deutscher Übersetzung von Sabine Bielfeldt wiedergegeben.

Es ist ein trüber Tag heute! Dunkel, wolkig, kalt, neblig und windig. Diese ganze Sache mit „dem Wetter“ ist so erstaunlich. Wir nennen es „Wetter“, aber was ist es wirklich? Wind, Regen, Wolken, die langsam vorbeiziehen. Nicht die Worte, mit denen man es benennt, sonder nur das Dunkeln, Blasen, Zerstieben, Nass-Werden, und dann das Aufleuchten, wenn blauer Himmel mitten in der Dunkelheit auftaucht, und Sonnenstrahlen auf nasse Gräser und Blätter scheinen. Nicht mehr lange und dann werden da Frost, Schnee und Eisflächen sein. Und dann wird es wieder wärmer, alles schmilzt, überall sickerndes Wasser. Die schmutzige Strasse funkelt an frühen Frühjahrstagen von lauter Strömen aus nassem Silber. So – was ist „Wetter“ anderes als die andauernde Veränderung der Bedingungen auf dieser Erde und all die menschlichen Gedanken, Gefühle und Unternehmungen, die davon beeinflusst sind? Mögen und Nicht-Mögen, Depression und Stolz, Aufbau und Zerstörung. Ein andauernder, sich immer verändernder Strom von Ereignissen, der nirgends verweilt. Es gibt keine Entität „Wetter“, außer im darüber Denken und Sprechen.

Gibt es so eine Entität wie das „Ich“ oder „Selbst“? Oder ist das gerade so etwas wie das „Wetter“ – ein immerwährender, immer sich verändernder Strom von Ideen, Bildern, Gedanken und Projektionen, Mögen und Nicht-Mögen, Aufbauen und Zerstörung? Etwas, das die Gedanken als „Ich“ – „Mein“ – „Toni“ benennen und damit etwas, aufrechterhalten und festigen, das eigentlich dahinschwindet? Was bin ich wirklich, in Wahrheit, und was denke und glaube ich zu sein? Sind wir interessiert, dieses erstaunliche Ich zu untersuchen, von Moment zu Moment? Ist das möglicherweise die Essenz der Arbeit, im Retreat? Uns sorgfältig zu erforschen, jenseits des Friedens und der Stille, die wir suchen und vielleicht finden. Sich klar werden über dieses tiefe Gefühl der Trennung zwischen dem „Ich“ und den „anderen“, ohne das Bedürfnis, es zu verdammen oder zu überwinden.

Die meisten Menschen sind sich vollständig sicher, dass dieses „Ich“ bin, „dieser Körper, dieser Geist, das Wissen und Gefühl über mich selbst, von dem so offensichtlich ist, dass es von anderen abgetrennt ist. Die Sprache, in der wir zu uns selbst und anderen sprechen impliziert diese Trennung zwischen Ich und Du ständig. Alle sagen Ich oder Du sprichst, wir denken es, schreiben es, lesen es und träumen es – fast ohne Pause. Eine ununterbrochene Bestätigung von dem Gefühl des „Ich“, das getrennt ist von den anderen. Getrennt. Isoliert. Nicht verstanden. Wie kann es gelingen, dass man die Wahrheit darüber entdeckt, wenn die Isolation so gesichert erscheint, wenn alle es so fühlen?

Trotzdem, die Schwierigkeiten sind nicht unüberwindbar. Ganzheit, wahres Sein, ist immer da, wie die Sonne hinter den Wolken. Das Tageslicht ist da, auch wenn es von den Wolken verdeckt ist.

Aus was bestehen diese Wolken?

Können wir anfangen zu begreifen, dass wir in Konzepten, in abstrakten Ideen über uns leben? Dass wir selten wirklich direkt in Kontakt mit dem sind, was gerade aktuell passiert? Können wir begreifen, dass Gedanken über mein Selbst – Ich bin gut oder schlecht, Ich werde gemocht oder nicht gemocht – nichts anderes sind als Gedanken – und dass diese Gedanken uns nicht sagen, was wir in Wahrheit sind? Ein Gedanke ist ein Gedanke, und er ruft ständig körperliche Reaktionen hervor, Freude und Schmerzen im gesamten Körper-Geist. Die Reaktionen des Körpers schaffen neue Gedanken und Gefühle über mein Selbst „Ich leide,“ „Ich bin glücklich,“ – „Ich bin nicht gut“. Rückmeldungen, die bestätigen, dass ich das bin, das verletzt wurde, oder dass ich mich gut fühle, oder dass ich mich verteidigen muss, oder mehr Bestätigung und Liebe von anderen bekommen muss. Wenn wir uns in unseren täglichen Beziehungen schützen, dann schützen wir uns nicht vor Steinen, die auf uns zufliegen, oder vor Bomben. Wir gehen vor Worten in Deckung, vor Gesten, vor Tonlagen in Stimmen und vor Anspielungen.

Gerade jetzt haben wir Worte gesprochen: “ … uns selbst beschützen, wir gehen in Deckung“. Wenn wir diese übliche Sprache benutzen schafft das andauernd Bestätigung, dass da wirklich jemand reales ist, der beschützt und jemand reales, der Schutz benötigt.

Ist da wirklich jemand, der vor Worten oder Gesten geschützt werden muss, oder leben wir in Ideen und Geschichten über das Ich und Du und all das passiert auf einer Bühne mit einem ständig sich fortsetzenden Film über das Drama unserer selbst?

Größte Sorgfalt und Aufmerksamkeit ist nötig, um das innere Drama halbwegs so zu sehen und es braucht Unparteilichkeit, um es so auszudrücken, die es gesehen wird. Wenn wir sagen: „das hat mir gute Gefühle gemacht“ oder „das hat mich verletzt“ bedeutet es, dass wir unsere Ich-Bilder weiter aufblasen oder das Gegenteil, wir stechen mit der Nadel hinein und die Luft entweicht.

Verstärken oder Zerstören unserer Ich-Bilder ist stets von freudigen Energien oder schmerzvollen Gefühlen in unserem Körper begleitet.

Wir fühlen aufsteigende Hitze oder Frösteln, wenn Worte Erinnerungen, Gefühle oder Leidenschaften wachrufen. Werden emotional geladene Ereignisse wiedererlebt, ob gerade gestern geschehen oder schon lange zurückliegend, schießen Gefühle von Freude oder Trauer, Gerührtheit oder Beschämung durch unseren Körper.

Gerade jetzt werden Worte gesprochen, und die kann man verfolgen, wörtlich und intellektuell. Wenn sie ordentlich und klar zusammengesetzt sind, können sie intellektuell Sinn machen. Vielleicht ist es notwendig, zuerst intellektuell zu verstehen, was in uns vorgeht. Aber das ist nicht das Ganze. Die Worte, die gesprochen werden, zeigen auf etwas, das direkt gesehen und gefühlt werden kann, innerlich, im Verlauf dieses Vortrags. So, wie es jetzt ist, von Moment zu Moment, jetzt und nachher, nach dem Vortrag (oder nach dem Retreat) – können wir frisch erleben, wach, direkt, wenn Verletzung oder Schmeicheln geschehen? Was geschieht da? Was wird verletzt? Und was macht, dass die Verletzung weiter besteht? Kann da Aufmerksamkeit sein wenn Verteidigung beginnt, Angst und Ärger aufsteigen, oder wir uns zurückziehen, und können wir sehen, wie all das begleitet ist wie von einem Roten Faden in unserer persönlichen Geschichte? Kann das ganze Drama mehr und mehr durchschaut werden? Und während es durchschaut wird, kann es durch und durch hinterfragt werden? Was ist das, das beschützt wird? Was ist das, was denkt verletzt zu werden? Was ist das Ich?

Es ist so erstaunlich. Ein Funke Aufmerksamkeit erhellt es: Ein einziges gesprochenes Wort reicht aus, um Freude oder Schmerz hervorzurufen. Kann dieser Zusammenhang klar werden? Die Unmittelbarkeit darin, und keine Ich-Entität, die es leitet, auch wenn wir glauben, dass wir das alles tun. Aber wir sagen auch, dass wir das nicht tun wollen. Worte und Reaktionen verlaufen auf gut geschmierten Bahnen und Verbindungen. Ein Gedanke an Verlust kommt auf und der Solar Plexus reagiert mit Schmerz. Phantasien von Liebe und Zärtlichkeit tauchen auf und ein Ozean von Freude entsteht. Wer macht das? Die Gedanken sagen: „Ich mache das!“ Wem geschieht das? Die Gedanken sagen: „Mir natürlich!“ Aber, wo und was ist dieses Ich, dieses Selbst, unabhängig von all diesen Gedanken und Gefühlen, das Herzklopfen, schmerzende und freudige Energien, die durch den Organismus kreisen. Wer könnte so etwas mit so einer erstaunlichen Geschwindigkeit und Präzision tun? Das Denken über das Ich und das Verfolgen der physiologischen Reaktionen braucht Zeit, aber das Gewahrsein jetzt kann das gesamte Drama augenblicklich erhellen. Alles passiert von selbst. Niemand leitet diese Show!

Gerade jetzt ist stürmischer Wind, Äste brechen und Blätter rauschen. Es ist alles hier, im Zuhören, aber wessen Zuhören ist es? Meines? Eures? Wir sagen: „Ich höre zu“ oder „Ich kann nicht so zuhören wie du“ und all diese Worte berauschen den Geist und die Gefühle mit Emotionen, die vor langer Zeit gelernt wurden. Ihr könntet protestieren und sagen „mein Herz ist nicht deines, dein Körper ist nicht meiner.“ Wir haben seit Urzeiten so gedacht und uns entsprechend verhalten, aber kann da mal einfach der Klang von schwankenden Bäumen und rauschenden Blättern sein und frische Luft strömt durch das Fenster und kühlt die Haut? Geschieht das nicht jedem? Es ist einfach da, für uns alle – oder?

Klingt es jetzt, als ob ich jemanden von etwas überzeugen möchte? Die Leidenschaft in dem Versuch, es einfach und klar auszudrücken, kann missverstanden werden als der Wunsch, Menschen zu beeinflussen. Das ist aber nicht so. Es ist nur die Beschreibung was mit uns allen hier geschieht. Nichts, das verkauft oder gekauft werden soll. Können wir einfach zuhören und für uns selbst ausprobieren, was zu erforschen angeboten wird, von Moment zu Moment?

Was ist dieses „Ich“, das verletzt oder stimuliert wird, geschmeichelt, immer und immer wieder, in der ganzen Welt? In psychologischen Begriffen sagen wir, dass wir mit unserem Selbst identifiziert sind. In spiritueller Sprache sagen wir, dass wir unserem Selbst anhaften. Was ist dieses „Selbst“? Ist es das Gefühl, selbst zu existieren, wissen, was ich bin, Mengen von Erinnerungen über mich selbst – all die Ideen und Bilder und Gefühle über mich selbst, die miteinander verflochten sind zu einer zusammenhängenden Geschichte? Und das genaue Wissen über diese Geschichte – Unmengen von Erinnerungen, manche hinzugefügt, manche fallen gelassen, alle miteinander verbunden – was ich bin, wie ich aussehe, was meine Fähigkeiten sind und was ich nicht kann, meine Ausbildung, meine Familie, mein Name, meine Vorlieben und was ich nicht mag, Meinungen, Annahmen etc. etc. Die Identifikation mit all dem bedeutet: „Das ist, was ich bin.“ Und das Anhaften daran bedeutet: „Ich kann es nicht lassen.“

Lasst uns hinter diese Konzepte schauen, direkt auf das, was sie bedeuten. Wenn jemand sagt: „Ich identifiziere mich mit meinem Familiennamen“, was bedeutet das? Lasst mich ein Beispiel nennen. Als ich heranwuchs, identifizierte ich mich sehr mit meinem Familiennamen, weil es der Name meines Vaters war und man mir gesagt hatte, dass er berühmt sei. Ich mochte es, anderen von den wissenschaftlichen Arbeiten meines Vaters zu erzählen, um respektiert zu werden und wegen der freudigen Gefühle über mich selbst, wenn ich Freunde beeindrucken konnte. Ich spürte die Bewunderung in den Augen der anderen, die sonst vielleicht nicht da war. Vielleicht war es eine Projektion. Vielleicht haben manche auch gedacht: „Was für ein Langweiler sie ist!“ Am Eingang zu unserer Wohnung war ein kleines poliertes Schild mit dem Namen meines Vaters und seinem Titel: Prof. Dr. phil. Das Phil hat mich besonders beeindruckt, weil ich dachte, dass es bedeutet, dass mein Vater ein Philosoph sei – was er aber nicht war. Ich muss die Idee gehabt haben, dass ein Philosoph eine besonders imponierende Persönlichkeit ist. Daher erzählte ich einigen Freunden davon und brachte sie zu unserer Türe und zeigte ihnen das Schild. Das ist eine Bedeutung von Identifikation – das eigene Selbst zu erhöhen, indem wir Ideen über andere Personen oder Gruppen hineinbauen. Oder über unseren Besitz, was wir erreicht oder durchlebt haben, einfügen – alles – im Gefühl, dass das Ich bin. Sich interessant zu fühlen erzeugt erstaunliche, süchtig-machende Energien.

Und noch ein anderes Beispiel aus der Vergangenheit: Ich war sehr mit meiner halb-jüdischen Abstammung identifiziert. Nicht offen in Deutschland, wo ich meist versuchte es zu verstecken anstatt es zu zeigen, aber dann nach dem Krieg, als das Erzählen von unserem Familienschicksal freundliche Aufmerksamkeit, sofortige Sympathie und bekräftigendes Interesse and der Geschichte hervorrief. Man kann sehr süchtig danach werden, die Geschichte des eigenen Lebens eindrucksvoll anderen und sich selbst darzustellen, und die Energien zu füttern, die davon hervorgerufen werden. Das ist auch etwas, was Identifikation und Anhaftung bedeutet. Und wenn so etwas von jemand gestört wird, der nicht dahinein investiert, oder wenn es angefochten oder insgesamt in Frage gestellt wird, dann ist da plötzlich Unsicherheit, physisches Unwohlsein, Ärger, Angst, Verletzung, was auch immer.

Nachdem ich Mitglied im Zen Center wurde und mich mit spiritueller Praxis beschäftigte, wurde mir eines Tages bewusst, dass ich seit langem niemandem mehr über meine Vergangenheit erzählt hatte. Und jetzt, wenn jemand auf das Thema kommt – manchmal möchten Journalisten fragen und darüber sprechen – dann fühlt es sich wie eine Belästigung und Mühe an. Warum solch alte Sachen erforschen? Ich möchte über das Zuhören sprechen, den Wind, den Vögeln zuhören. (Gelächter) Hört Ihr Interviewer auch zu? Oder seid Ihr mehr an Identitäten und Geschichten interessiert?

Manchmal bringen Menschen die Frage auf, warum ich mich selbst nicht als Lehrerin bezeichne, obwohl ich so in das Lehren engagiert bin. Jemand hat es heute Morgen aufgebracht – die Projektionen, sowohl die mentalen, als auch die psychischen Assoziationen, die aufsteigen, wenn man draußen vor dem Gesprächszimmer wartet und dann nervös mit klopfendem Herz eintritt. Die Bilder von Lehrer und Schüler bieten sich dann automatisch an, wie Kleider, die man anziehen kann um in diesen Kleidern Rollen zu spielen. Wenn ich Vorträge halte oder mich mit Menschen zum Gespräch treffe, ist das Lehrer-Schüler-Bild nicht da – es gehört zu einer anderen Ebene des Seins. Wenn solche Bilder aufkommen, sind sie im Wege wie Wolken, die die Sonne verbergen. Ohne Bilder zusammen sein, ist die frischeste, freieste Sache auf der Welt.

So, was bin ich und was seid ihr – was sind wir außer Bildern, Kleidung und ohne unser wahres Sein zu verbergen? Es ist nicht vorstellbar – oder? Und jetzt, ist da der Klang von blasendem Wind, geschüttelten Bäumen, krächzende Krähen, brechendes Holz, Atem, der fließt ohne dass irgendwelche Gedanken nötig sind. Gedanken heften sich and das, was aktuell gerade passiert und überdecken es, und in dieser verhafteten Welt verbringen wir den größten Teil unseres Lebens.

Und jetzt, so hin und wieder, ob man spirituelle Arbeit macht oder nicht, meditiert oder nicht, scheint die reale Welt wundersam aus allem hervor. Was ist es, wenn Worte ausbleiben? Wenn da kein Wissen ist? Wenn da kein Zuhörer ist und doch Zuhören, Gewahrsein, ohne alle Trennung?

Mir fällt ein Moment während eines Besuchs bei meinen Eltern in der Schweiz ein. Ich hatte immer eine schwierige Beziehung zu meiner Mutter gehabt. Ich war sehr ängstlich ihr gegenüber. Sie war eine leidenschaftliche Frau, mit sehr viel Ärger. Aber auch Liebe. Einmal während dieses Besuchs sah ich sie im Esszimmer mir gegenüber stehen. Sie stand einfach da und aus keinem nennbaren Grund und ohne Ursache sah ich sie plötzlich ohne Vergangenheit. Da war kein Bild von ihr, und auch keine Idee, was sie in mir sah. All das war verschwunden. Und es war nichts da außer reiner Liebe zu dieser Frau. So eine Schönheit schien aus ihr. Und unsere Beziehung hat sich verändert, da war eine neue Nähe. Es ist einfach passiert.

Jemand sagte, dass es Kummer bereitet, ein zerrüttetes Bild zu sehen. Aber die Zerrüttung des Selbst-Bildes bereitet kein Leid. Wirklich zu sehen, dass dieses „Ich“ nichts ist, als ein habituelles, geistiges Konstrukt, das befreit, jenseits aller Vorstellung.